»Grün ist die Tugend«

Ganz allgemein gesprochen bedürfen die Arbeiten von Reinhold Engberding keiner grossen Erklärungen. So muss ihnen nur ein bisschen aufmerksam zugehört werden, dann fangen diese an zu erzählen. Sie zeichnen sich durch einen hohen Grad an Systematik und Stringenz aus. Sie legen Fährten aus, die sich, hat man sie einmal gefunden, konsequent fortsetzen. Gleichzeitig befinden sie sich jedoch auch in einem poetischen Schwebezustand, einem Grenzbereich der uns allen den Freiraum gibt, den eigenen Gedanken nachzuhängen.

Trotzdem gibt es natürlich einiges über die künstlerische Arbeit von Reinhold Engberding zu sagen.

Der Titel der Ausstellung »Grün ist die Tugend« - gleichzeitig der Titel der großen Installation - ist eine Aussage, die sich eigentlich jeder Rationalität entzieht, und er gibt keine Aufschlüsse über die Beziehung von »grün« und »Tugend«. Sehr viel rationaler und systematischer ist die Methode, die Reinhold Engberding zu diesem Titel geführt hat.

Er hat das Wort »disparat« (einen möglichen ursprünglichen Ausstellungstitel) in die Internetsuchmaschine »Google« eingegeben. Und er ist gleich im ersten Eintrag auf folgendes gestossen: »Disparat sind Begriffe, die nicht zusammen zur Einheit verknüpft werden können ( z.B. Tugend - grün)«. - Interessanterweise funktioniert das nicht in der umgekehrten Richtung. Gibt man nämlich »grün« und »Tugend« bei Google ein, muss man sich durch 230 Einträge klicken um zum oben genannten Zitat zu kommen.

Ähnliches ist mit den Jackettpaaren passiert. Anzüge und Jacketts können ja als letzte Bastion männlicher Selbstinszenierung mit Hilfe von Kleidung verstanden werden. Ein Gebiet, in dem Männer deutlich benachteiligt sind, Frauen haben da schon mehr Inszenierungsfreiheiten. Gilt es Professionalität oder Ernsthaftigkeit auszustrahlen, greift man zum Jackett. So ist man immer ordentlich angezogen und bewahrt sich eine gewisse Distanz. Die Gebilde, die hier zu sehen sind, bestehen aus je zwei dieser Jacketts, und sie treffen an ihren intimsten Stellen, nämlich an dem meist seidenen Innenfutter aufeinander und wurden vom Künstler in Handarbeit an den Kragen- und Frontpartien zusammen genäht. Gleichzeitig wurden jeweils die Ärmel des einen in die Ärmelöffnungen des anderen gesteckt und umgekehrt. Dadurch ergibt sich, betrachtet man die »Doppeljacketts« von oben, eine S-Form.

Das sogenannte Verlobungssofa hat eine ähnliche Form. Anstandssofa wäre der wohl treffendere Ausdruck: Verliebte können sich so zwar gegenüber sitzen und in die Augen schauen, aber die Form des Sofas bildet ein Hindernis zwischen ihnen. Trotz der sehr innigen Verbundenheit, in der sich die Jacketts befinden, fordert uns Reinhold Engberding auf, ihnen ganz nahe zu kommen und sie zu betrachten. Denn diese Jacketts vermitteln eine »Message«. Eine Eigenschaft die sonst in klassischer Weise dem T-Shirt zugestanden wird.

So hat der Künstler mit einem roten Faden die Namen der Kirchen und Künstler auf die Jacketts gestickt, die er in den letzten drei Monaten besichtigt bzw. deren Ausstellung er besucht hat, und die einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen haben. Des Weiteren hat Reinhold Engberding immer auch den Namen des Ortes, indem die Ausstellungen stattgefunden haben, gestickt festgehalten, sowie den Zusatz: RE  I-II 06
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Sein dreimonatiges Stipendium in Willisau beinhaltete nicht nur ein Atelier, hinzu kamen der schweizerische Museumspass und das General-Abonnement der SBB. Dies hat Reinhold Engberding bald als Aufforderung verstanden, sein Atelier so oft wie möglich zu verlassen. Was er auch sehr häufig getan hat, - aber eben um zu arbeiten!

So hat er Ausstellungen und Kirchen fast in der gesamten Schweiz besucht und sich anschliessend im jeweils örtlichen Brockenhaus zwei Jacketts gekauft. Da nur die für den Künstler wichtigsten und eindrücklichsten Besuche festgehalten sind, ermöglicht er uns einen offenherzigen Zugang zu seinen doch sehr persönlichen Einschätzungen. Und die Stickereien werden zu kryptischen Tagebuchaufzeichnungen.

Disparates kommt auch in den Fotoarbeiten »Willisau-Bartoles« zusammen. Reinhold Engberding hat vor seinem Stipendium im »Willisauer Boten« inseriert und die Einwohner von Willisau gebeten, ihm Kinderfotos von sich zu schicken. Einzige Voraussetzung war es, ungefähr in der gleichen Zeit wie der Künstler geboren zu sein.

Die eingesandten Fotografien hat Reinhold Engberding im Photoshop bearbeitet und einen Farbfilter darüber gelegt. Anschliessend hat er Portraits von sich selbst aus Kinderjahren, jedoch übertragen als Zeichnung, wie eine zweite Schicht darüber gelegt. Dadurch schafft er auch hier wieder einen intimen Moment, indem die Gesichter von sich völlig fremden Menschen nach formalen Kriterien übereinander gelegt werden. In jedem Bild gibt es einen gemeinsamen Fixpunkt, wo beide Augenpaare exakt übereinander gelegt sind. Das Intime wird durch die Hängung im Treppenhaus, die eine entsprechende räumliche Situation schafft, noch verstärkt. Also, auch hier kommt Disparates zusammen; und ähnlich wie sich die Verbindung zwischen »grün« und »Tugend« nicht rational erklären lässt, wird man zugeben müssen, dass das Portrait von dem Mädchen mit den langen Zöpfen nun mal ein grünes Bild ist, obwohl es eben keine logischen Argumente dafür gibt. Bezeichnenderweise legen die Umrisse des gezeichneten Portraits des Künstlers, die Originalqualität der Fotografien auf, indem in den Zeichnungslinien der jeweilige Farbfilter aufgehoben ist. Dadurch wird die einzige Gemeinsamkeit zwischen den an sich fremden Individuen subtil betont, nämlich die, aus einer ähnlichen Generation zu stammen. Dies wird auch deutlich durch die Kleidung der Portraitierten Kinder; deren Mütter hatten offensichtlich alle eine Vorliebe für Gestricktes.

Der Künstler hat konsequent den Kreis geschlossen, indem er in einem Bild zwei Portraits von sich selbst zusammen gebracht hat. Ganz klar eine Aufforderung an uns Betrachter, es ausfindig zu machen.

Ein striktes Reglement, kombiniert mit Intimität, führen uns auch die Gedichte von Holger B. Nidden-Grien vor, dem Correspondenten Reinhold Engberdings, mit dem er seit ca. 1996 zusammenarbeitet. Nidden-Grien und Engberding haben einiges gemeinsam, zum einen die Vorliebe für Textiles bzw. Texte und zudem bestehen ihre Namen aus den gleichen Buchstaben.

Jeder künstlerischen Arbeit liegt in der Regel ein selbst geschaffenes System zu Grunde, sozusagen der Grundstein für die Erschaffung einer eigenen Welt. Wie am Anfang erwähnt, ist Reinhold Engberding ein Systematiker, somit könnte man sagen, sein Correspondent, wie er ihn nennt, habe sich selbst anagrammatisch aus den Buchstaben seines Namens generiert.

Nidden-Grien liebt ein strenges Reglement. Bei den Gedichten »Willisauer Texte«, die er hier auf die Wand projiziert zeigt, gibt es zwei Regeln: die Buchstabenanzahl des Ausgangsworts muss durch 3 teilbar sein, unter Umständen darf auch ein Buchstabe angefügt werden, wie wir bei »Wil-lis-aua« sehen. Das Wort wird in seine Einzelteile, die Buchstaben, zerlegt und an den Anfang der Zeilen des Gedichtes wird nacheinander je einer dieser Buchstaben gesetzt. Das scheint auf den ersten Blick sehr streng und einschränkend zu sein, doch wenn man sich Zeit nimmt, die an die Wand projizierten Gedichte zu lesen, wird man merken, wie viel inhaltlicher Freiraum noch möglich ist, und dass ein sehr intimer, und oft auch humorvoller Einblick in Nidden-Griens Lebenssituation am Anfang diesen Jahres hier in Willisau gegeben wird.

»Fliegen (Für Lucius Burckhardt)« ist für mich die spielerischste und poetischste Arbeit dieser Ausstellung. Westen, sogenannte Gilets, die unter dem Jackett getragen werden, und die der oben angesprochenen professionellen Ausstrahlung von Jackettträgern auch noch etwas bildhaft Zugeknöpftes geben, sind hier bloss gelegt: mit der Innenseite nach aussen gekehrt, an den Armlöchern aneinander genäht und vorne zugeknöpft. Gleichzeitig geben die Gilets sich Halt, indem sie zusammenhalten und einen Kreis bilden. Eine Geste, die eigentlich eine aggressive Abwehrhandlung deutlich macht: den Kreis nach aussen schliessen, um sich abzugrenzen und zusammenzustehen.

Gleichzeitig besticht die Arbeit durch eine poetisch-fragile Skulpturalität, die sie loslöst und über den Dingen schweben lässt durch eine eigenständige, ästhetische Körperlichkeit. Auch ist die Arbeit eine Würdigung des ehemaligen Lehrers Lucius Burckhardt, bei dem Reinhold Engberding sein erstes Studium abgeschlossen hat. ( Die sechs verwendeten Gilets sind ihm von Annemarie Burckhardt überlassen worden. )

Abschliessend möchte ich noch etwas zu den Techniken Reinhold Engberdings sagen, die traditionell immer noch als weibliche Tätigkeiten definiert werden, wie das Nähen und Sticken. Der Künstler geht selbstverständlich mit diesen Techniken um. Deren Anwendung ergibt sich für ihn aus einer inhaltlichen oder materiellen Konsequenz, und ist nicht als ein Beitrag zur Gender-Diskussion gemeint. Trotzdem können sie am Ende als Kommentare zu diesem viel belasteten Diskurs gelesen werden, indem der Künstler sich eben nicht explizit an der Theoriebildung beteiligt, sondern handelt, ungeachtet geschlechtsspezifischer Zuschreibungen.


Silke Baumann, Kunsthalle Basel
Auszug aus der Eröffnungsrede 22. 3. 2006